Zeugs, Dinge, Sachen. Was sie mit mir machen. Punkt.

19. Mär 2025
Irene Briner

Zeugs, Dinge, Sachen. Was sie mit mir machen. Punkt.

…“dass die Dinge zusammengefaltete Diskurse sind. Oder die alten Falten verklungener Äusserungen. Oder die konkreten Rückstände verblasster Wortketten.“ (Roger-Pol Droit, Was Sachen mit uns machen. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 2005)

Der Punkt

Seit Jahren schon befasse ich mich mit dem Doppelpunkt. Er ist für mich Symbol für jegliche Übergangsphänomene. Er steht für alle meine Erzählperformances. Auch für meine Kulturvermittlungen all überall.

Weil nun aber ein Doppelpunkt eben ein doppelter oder verdoppelter Punkt ist, habe ich mich intensiver auf den Punkt eingelassen.

Ich bin auf den Punkt gekommen. Auf den Hund noch nicht. Vielleicht erfahre ich, wo mein Hund begraben liegt, wenn ich formuliere, was das Ding oder das Zeug oder die Sache Punkt mit mir macht.

Es sei gesagt, dass ich vor etlicher Zeit das Buch „Was Sachen mit uns machen“ von Roger-Pol Droit in die Finger bekommen habe. Der Autor ist ein Philosoph. Und Provokateur. Und Wörterspieler. Und Denker. Und im zweitletzten Abschnitt seines Buches sagt er zu mir: „An Ihnen ist es, die Dinge zu lieben wie sich selbst.“ (Leider ist dieses Buch von Roger-Pol Droit vergriffen. 2018 ist „Die Kraft der Philosophie – 101 Alltagsexperimente“ im Hoffmann und Campe Verlag erschienen. Darin muss ich noch schnöiggen…)

Bevor ich allerdings ein Ding liebe, will ich es kennenlernen. Will wissen, wie es um diese Sache steht. Was sie macht. Was sie mit mir macht. Oder was sie gar aus mir macht.

Darum frage ich mich jetzt, was ein Punkt ist. Wie es um ihn steht. Was er macht. Was er mit mir macht.

Ein Punkt ist einfach nur ein Punkt. Ja, vielleicht…

Ein Punkt ist eine Sache, ein Zeugs, ein Ding. Ja, vielleicht auch das…

Es ist ihm piep egal, was er mit mir macht. Er sagt nichts. Er singt nicht und schreit nicht. An und für sich. Grundsätzlich. Wie jedes andere Zeugs oder Ding auch. Er fordert nicht, urteilt nicht. Will nichts. Ist aber nicht nichts.

Ein Punkt kann kaum sichtbar sein. Auch ziemlich gross. Welche Farbe er hat, ist ihm wahrscheinlich auch egal.

Ist er das, was ich aus ihm mache? Und macht er erst aus mir etwas, wenn ich aus ihm etwas gemacht habe?

Zwischen zwei Sätzen ist der Punkt der ruhige Pool. Er zeigt, dass ein Satz fertig ist. Nach ihm muss nicht zwingend ein nächster Satz folgen. Er kann das Letzte sein. Oder alle Möglichkeiten offen lassen. Kommt nach dem Punkt ein nächster Satz, lässt er Raum und Zeit für das Nichts oder fürs Atem holen oder zum Nachdenken. Ja, vielleicht ist es so…

Wenn ich erzähle, dann punktiere ich. Ich führe mit Wörtern ein Stück auf. Unterstrichen von Gesten und Mimik.

Punktieren heisst auch, Pausen setzen. Auch das kann sein…

Die vielen Punkte zwischen den vielen Sätzen in einer Geschichte machen demnach den Rhythmus. Wahrscheinlich…Fragt sich gerade, ob eine Geschichte nicht einfach ein Musikstück mit Wörtern ist.

Manchmal ist eine Punktierung ein Paukenschlag. Das kann ein Höhepunkt sein. Aber auch der Punkt, an dem eine Geschichte ihre entscheidende Wendung findet.

In jeder Geschichte gibt es eine Pointe. Aber ich pointiere auch vermeintlich Nebensächliches. Manchmal versteckt sich die Pointe der Geschichte. Es kommt vor, dass sie sich erst zeigt, wenn ich die Geschichte laut vor Publikum erzähle. Das Publikum ist mein Echoraum. Es bringt mich auf den Punkt. Wahrscheinlich. Ziemlich sicher…

Ist der Punkt also das entscheidende Zeugs, um das sich die ganze Geschichte, das Märchen dreht? Lässt erst das Punktding die Menschen in Geschichten handeln, Sachen machen?

Habe ich ein Märchen, eine Erzählung, eine Geschichte erst begriffen, wenn ich dieses Punktding erkannt habe? Wenn ich mich von diesem Zeugs habe ergreifen lassen? Fesselt es mich? Und lässt es mich wieder los? Was macht es mit mir? Ist es der Berührungspunkt, der die Zuhörerinnen und mich fesselt? Uns berührt? Und uns zu einer Erzähl- und Hörgemeinschaft werden lässt?

Kann es sein, dass der Punkt aus mir eine gute Erzählerin macht? Eine, die den Rhythmus einer Geschichte erfasst? Die eine Geschichte pointiert? Den springenden Punkt erkennt? Und mit ihrem Erzählen den Zuhörerinnen ihre eigenen Erkenntnisse ermöglicht? Das macht, was Erzählen auch sein kann, sollte? Vermitteln zwischen der Geschichte und den Zuhörern? Geschichten und Zuhörerinnen zusammenbringen?

Was macht nun dieser Punkt mit mir?

Bevor ein Punkt etwas mit mir machen kann, muss ich ihn sehen. Also, versuche ich, ihn zu belauschen. Ich lauere ihm auf, stelle ihm ein Bein und nähere mich ihm auf leisen Sohlen.

Ich kann auch versuchen, mit ihm zu spielen. Ihn zu Wort kommen zu lassen. Seinen Klang hören. Zulassen, dass er mich berührt.

Entblösst er mich dann? Offenbart er meinen Charakter, meinen Geist, meine Gesinnung? Wenn ich mich anschauen lasse von einem Punkt oder Punktding oder Zeugs oder einer Sache, mich auf ihn einlasse, mich mit ihm befasse, es in meine Gedanken lasse und diese in Worte fasse, entblösst es mich? Ja? Will ich das? Darf das sein?

Wird der Punkt zu meiner Reliquie?

Oh herrjemineh!

Also los:

Was ist ein Punkt? Wie sieht er aus? Wie klingt er? Welche Farbe hat er? Duftet er?

Ich versuch’s mit ein paar Punktgeschichten. Schliesslich bin ich Erzählerin…

Erste Punktgeschichte:

Es war einmal ein Punkt.

Der ging und ging und ging…

Da merkte er, dass er sich verirrte und verlor.

Er trieb übers weite Meer bis ans Ende seiner Welt.

Da sah er ein Licht.

Steil wand sich der Weg hinauf dorthin.

Von dort sah er weit unter sich ein kleines, rundes, schwarzes Nichts.

Ein steiler Weg führte ihn in die Tiefe.

Im Nichts fand sich der Punkt wieder.

Jetzt füllt er es aus.

 

Zweite Punktgeschichte:

Es war einmal ein Punkt.

Der machte sich auf die Suche. Nach sich selbst.

Er fragte sich nach dem Weg.

Nehme ich die gerade Strasse? Den Zick-Zack-Weg? Soll ich im Kreis tanzen oder mich in einer Spirale drehen? Von aussen nach innen oder umgekehrt?

Bin ich am Rande oder in der Mitte? Ist die im Zentrum?

Bin ich rund, eckig, halb, ganz?

Er kam an einen tief ruhigen See.

Als er ins Wasser schaute, fand er sich.

Jetzt lebt er zufrieden.

Als Doppelpunkt.

 

Dritte Punktgeschichte:

Ein Punkt spaziert am Rande der grossen Strasse.

Das schnelle Rad sieht ihn zu spät. Es überfährt den Punkt.

Vom Himmel fällt unendlicher Regen. Der Strassenrand ist nass und pflotschig.

Darum überlebt der Punkt.

Er rappelt sich auf.

Wie er den Dreck von sich abwischt, sieht er, dass er sehr lang geworden ist.

Oh je! Was mach ich jetzt – als Strich?

 

Vierte Punktgeschichte:

Der Punkt sonnt sich im Sand unter einer Steilküste.

Er blinzelt in den wolkenlosen Himmel.

Oben an der Steilküste bewegt sich etwas.

Ein Strich klettert nach unten.

Jetzt steckt er fest.

Der Strich jammert, fleht und ruft um Hilfe.

Wie komme ich zu ihm hoch? überlegt der Punkt.

Geht nicht. Bin zu klein und zu rund.

Der Strich kann sich nicht mehr halten.

Punkt, fang mich auf!

Stell dich direkt unter mich!

So?

!

Sieht gut aus!

Der Strich lässt sich fallen.

Der Punkt fängt ihn auf.

Der Strich verschwindet im Punkt.

Sie sind glücklich.

Sie erwarten Zwillinge …

 

Fünfte Punktgeschichte:

Der Punkt ist sehr verunsichert.

Er fragt sich, wie er entstanden ist.

Woher er kommt.

Woraus er besteht.

Wohin das führen soll.

Ob er überhaupt gebraucht wird.

Wozu und wofür?

Und geliebt?

Wo ist sein Platz? Wo soll er stehen und liegen und sitzen?

Forscher sollte man sein. Wissenschaftler und Abenteurer.

Das alles bin ich nicht, weiss der Punkt.

Aber, könnte ich das nicht werden?

Ich mach den ersten Schritt zum Sein.

Jetzt.

 

Sechste Punktgeschichte:

Der Punkt zwängte sich ungefragt zwischen zwei Wörter. Sinnlos und. Völlig fehl am. Platz.

Nichts. Zu. Machen.

Geschichten. Konnten. Nicht. Mehr. Geschrieben. Werden.

Schreiben. Wurde. Unmöglich.

Bedeutungen. Verkehrt.

Auch. Alle. Anderen. Satzzeichen. Wurden. Verstümmelt. Zu. Punkten.

Was. Konnte. Dagegen. Getan. Werden.

Totale. Reduktion.

Einwortsätze.

Zurück. Zur. Keilschrift.

Damals. Gab. Es. Keine. Interpunktionszeichen.

Bei. Den. Hieroglyphen. Auch. Nicht.

Doch. Plötzlich. War. Klar.

Erzählen. Statt. Schreiben.  

Den. Rest. Kannst. Du. Dir. Denken.

Ohne

Punkt

 

Geht doch

 

Sechste Punktgeschichte, Fortsetzung:

Uff der Punkt ist weg und er hat alle anderen Punkte auch mitgenommen ein paar hätten ja bleiben dürfen so ganz ohne Punkte scheint die Sache auch nicht gerade einfach zu sein die Punkte lassen ellenlange Wurmsätze zurück ohne Anfang und Ende Eintönigkeit macht sich breit der Rhythmus ist nur noch Mus der Text hat keinen Boden mehr und die Wörter verlieren sich im Nichts sie fallen ins Bodenlose  ohne Berührungspunkte sind sie haltlos alles wird zu nichts es verliert seine Bedeutung und wird nicht mehr verstanden sowas kann der Punkt nicht machen mit der Geschichte und den Leserinnen das Geleiere wird unerträglich Verdruss kommt auf und zerstört jede Lust auf diese und weitere Geschichten komm zurück Punkt und setz den Schlusspunkt

.

Danke.

Schön und vielleicht gut

Als Erzählerin von Geschichten der, von Prof. Dr. Peter von Matt so genannten, Breitenliteratur – also von Volksmärchen, von Sagen, Legenden und Mythen, wage ich den Versuch, mich einem entscheidenden Punkt in einem Märchen anzunähern.

In welchem Märchen soll ich suchen nach dem Zeugs, dem Ding, das die Geschichte in Gang setzt, die Protagonisten handeln lässt?

Die Wahl ist nicht einfach. Denn ich möchte ja, dass Sie dran bleiben. Sich mitreissen lassen. Dass sie berührt werden. Vom Punkt.

 

Ist es der Blumenstrauss, den das Rotkäppchen im gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm (KHM Nr. 26) im Wald pflückt für die Grossmutter? Das könnte sein. Mal sehen:

Im Blog

Punkt, Zeugs, Ding, Sache „Rotkäppchens Blumenstrauss“

 


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